10. Juli 2019: Vom Truckstop bei Zigar bis zur Stadt Kalai-i-Khum
~76 Kilometer und 1880 Höhenmeter mit dem Fahrrad.
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Erneut bin ich heute sehr früh aufgestanden. Leider habe ich es gestern nicht ganz so früh in den Schlafsack wie erhofft, dafür war das Setting aber auch zu schräg. Auf dem Tapchan, 10 Meter freies Sichtfeld von der Straße entfernt. Und da donnerten auch nachts noch die LKWs vorbei. Genau daneben war ein kleiner Polizeicheckpoint, der jeden LKW mit einem Leuchtstab zum Anhalten gezwungen hat. Das bedeutete für mich: Quietschende LKW-Bremsen, laute Gespräch. Zudem eine ziemliche Hitze, ich lag nur im Schlafsack-Inlet auf den dort ausgelegten Polstern. Und um etwa 4 Uhr früh, bei Sonnenaufgang kam dann noch ein Truckfahrer und hat angefangen auf dem Tapchan gen Mekka zu beten, direkt neben einem weiteren Fahrer, der fleißig vor sich hin schnarchte. Nun, ich versuche so still wie möglich meine Habseligkeiten zusammen zu packen. Selbst ohne Zelt dauert dies in der Früh noch lange, immer wieder muss ich überlegen was in welche Tasche muss.
Bevor ich losfahre, probiere ich noch meinen neuen Wasserfilter an der Quelle aus, ich habe keine Lust nur Wasser zu trinken, welches ich mit Chlortablettenbehandelt habe. Der Filter funktioniert, ist allerdings verdammt langsam.
Die Fahrt heute ging besser als gestern. Nach dem Start kamen zwar gleich ein paar knackige Anhöhen, aber diese konnte ich meistern. Es war einfach deutlich kühler in der Früh, den frühen Start werde ich also auch die kommenden Tage fortführen, der Effekt ist immens.
Auch lag das tief eingeschnittene Tal noch im Schatten, was zusätzlich half. Anders als gestern, wo ich mich in der prallen Sonne den Pass hochkurbeln musste. Die Landschaft ist schön und die Blicke nach Afghanistan spektakulär. Afghanische Schulkinder winken und rufen mir zu, ich grüße freundlich zurück. Männer fahren auf alten, klapprigen Mofas ins Nachbardorf, hinten sitzt die Ehefrau mit Burka verschleiert auf dem Sozius.
Auf gutem Straßenbelag kam ich gut voran, der Blick schweift immer wieder nach Afghanistan. Wie verrückt, dass ich hier dran vorbei fahre. Afghanistan, das ist für mich, dessen politische Bildung altersbedingt Post-9/11 und mit dem „War on Terror“ begann, ein Land des Chaos, der Bombenangriffe und der puren Misswirtschaft. Und doch blicke ich hier auf kleine, sicherlich ärmliche Dörfer, aber es scheint ein Leben fernab des Krieges zu geben.
Ab und zu begegne ich den üblichen Grenzkontrollen, die aus 3-4 jungen tadschikischen Soldaten bestehen, die mit Gewehr auf dem Rücken die Straße entlang patrouillieren. Es gibt zwar auf der anderen Uferseite Berichte über Taliban-Kämpfer, die sich in den Bergen verstecken, die Hauptsorge gilt aber wohl dem Opium und Heroinschmuggel, der über den Grenzfluss stattfindet. Tadschikistan ist für diese Drogen ein gefragtes Transitland. Eben deshalb erscheint mir diese Patrouille sinnentleert. Die Grenze ist lang, geschmuggelt wird wohl überwiegend nachts, und die Päckchen dann schnellstmöglich in einen Jeep geladen, der davon braust. 4 Soldaten alle 20 Kilometer, dann auch noch zu Fuß in der Mittagshitze, das bringt gar nichts. Vielleicht ist dies aber auch die gewünschte Form des Aktionismus, es gibt Berichte über Militärs, die fleißig mitverdienen am Drogenschmuggel.
Um 11.30 Uhr suche ich langsam ein Plätzchen für ein Mittagessen, schließlich bin ich da durch den frühen Start schon lange unterwegs. Von den 75 Kilometern bis Kalai-i-Khum habe ich bereits 55 hinter mich gebracht.
Wie gestern schon erklärt will ich heute auch eine längere Mittagspause machen, die Mittagshitze im Schatten aussitzen. Und der Zufall treibt mich dann auch in die Arme einer wundervollen Familie in einem kleinen Dorf. Ich spreche sie an, da es außerhalb der Dörfer keine Bäume und somit keinen Schatten gibt. Sie selber haben aber einen kleinen Wald im Garten und auch einen Tapchan der im Schatten der Bäume verführerisch aussieht.
Erneut spricht der Vater und die Mutter kein Wort Englisch, meine Gesten werden aber verstanden. Ich kann mich sogar vor dem Hinsetzen am Gartenschlauch mit frischem Wasser aus den Bergen abkühlen und den gröbsten Schweiß abwischen.
Anschließend liege ich auf dem Tapchan und genieße das herrliche Gefühl im kühlen Schatten zu sein. Ich muss wohl 2 Minuten die Augen zugemacht haben, plötzlich steht auf dem Tisch vor mir ein Teller mit Obst. Ich bedanke mich beim Vater, stelle aber auch klar, dass ich das überhaupt nicht erwartet habe und ihnen sehr dankbar bin. Weitere 5 Minuten vergehen bis die Frau des Hauses mit Tablett angelaufen kommt, darauf eine Kanne Tee, eine Schüssel Kefir-Joghurt, eine Scheibe Brot und ein Teller mit Osch, dem Regionalgericht des Landes. Kartoffeln, Kohl, ein wenig Fleisch, zusammen mit einer Brühe und was sonst im Haus so vorhanden wird, manchmal auch mit Reis. Spannenderweise verzieht sich beim Anblick dieses Gourmetessens meine andauernde Übelkeit und ich genieße das mir gereichte Mittagessen. Ich freue mich trotzdem darüber, dass es nur eine kleine Portion war und hoffe ich habe der Familie keine Umstände gemacht. Sie scheinen ihr Mittagessen bereits gehabt zu haben, dies sind wohl die Überreste. Die 3 Kinder der Familie wuseln über mich herum. Und jedes Mal wenn ich sie anlächelte oder Hallo sagte dann kicherten sie los und rannten ein bisschen weg und kamen wieder, zahlreiche „Hello, hello, Hello!“-Rufe anstimmend. Irgendwann merkt der Vater mir meine Erschöpfung an, ein paar strenge Sätze werden gerufen und schon verschwinden die Kinder. Ich komme mir zwar dadurch ein wenig wie ein Eindringling vor, bin aber über die Ruhe dankbar. Auf dem Tapchan liegend, tritt nun Entspannung bei mir ein. Im Schatten sind es 38° C, das fühlt sich für mich beinahe kühl an. Ich schaffe es nach dem Mittagessen noch knappe 3 Stunden dort liegen zu bleiben, auch ein wenig Schlaf kann ich nachholen.
Der Familienvater ist Taxi-Fahrer zwischen Kalai-i-Khum und Duschanbe, er kennt meine Route der letzten Tage also wie seine Westentasche. Er ist damit beschäftigt sein Taxi zu reparieren, stellenweise kommen wohl Bekannte aus dem Ort um ihn dabei zu unterstützen. Alle verhalten sich freundlich mir gegenüber, scheinen aber gar nicht so überrascht zu sein. Wie man wohl in Deutschland reagieren würde, wenn plötzlich ein Fremder ohne überschneidende Sprachkenntnisse im Garten liegen will, und dort auch über Stunden nicht verschwindet? Hier jedenfalls werde ich nur herzlich aufgenommen, erhalte mal wieder eine überwältigende und sinnstiftende Lektion in Gastfreundschaft. Und das, wo ich gestern in einer kleinen Felsnische auf Schotter lag, und versucht habe den minimalen Schatten auszunutzen. Am Ende meines Besuchs ist es ein wahrer Kampf darum, dem Familienvater 50 Somoni (knapp unter 5€) zu übergeben. Erst nach mehrmaligem, aufdringlichem Bitten meinerseits gibt er klein bei und ich fahre anschließend glücklich und erholt weiter.
Erschreckend finde ich, dass auch die vorbeigekommenen 13-15-jährigen Nachbarskinder fast kein Englisch verstehen. Dies ist den Kindern ähnlich, die bei den Ortsdurchfahrten angerannt kommen. Es heißt zwar schnell „Hello, hello, where are you from?“, aber man merkt, dass sie meine Antwort darauf ebenso wenig verstehen wie die Antwort auf „what’s your name?“. Stattdessen sind diese Fragen wohl auswendig gelernte Floskeln, die von ihnen ohne jegliches Bewusstsein für die Bedeutung aufgesagt werden. Über Wochen begleitet mich nun der übliche Gesprächsfluss mit den Kindern, es ist ein andauerndes „Hello, hello, hello, whatsyourname, whereyoufrom, hello, hello, howareyou, hello, hello, goodbye, bye, hello.“ Nun, es wird aufgewogen durch lachende, fröhliche Kindergesichter, ein wenig Schräg ist es aber schon. Vorallem wenn dies 200 Mal täglich stattfindet. Nun, ich fände es deutlich unangenehmer dauernd angebettelt zu werden und zumindest dies hab ich bisher gar nicht erlebt.
War der Asphalt schon vor der Mittagspause schlecht gewesen, hörte dieser nun bei der Weiterfahrt um 15.30 Uhr komplett auf. Auf schlecht gewarteter Schotterpiste ging es nun langsam voran in Richtung Kalai-i-Khum. Die 20 Kilometer bis dorthin zogen sich, auch da ich zwischen drin noch einmal Wasser filterte und ein paar Verschnaufpausen einlegte.
Kurz vor der Stadt habe ich das folgende Schild fotografiert: Es soll wohl Fahrrad-Infrastruktur vorgegaukelt werden, allerdings zeigt sich davon nichts auf den Straßen.
Irgendwo auf einem Hang steht noch ein Miniatur-Schlösschen, ich wüsste ja gerne wieso dies dort erbaut wurde.
Bereits einige Kilometer vor der Ortseinfahrt wurde ich von einem Auto angehalten und angeraunzt, ich soll doch gefälligst zu Hotel Roma gehen. Da dachte ich mir schon, na suuuuper. Dann fingen mich auch noch drei Kindern auf Fahrrädern ab, auch diese drängten mich penetrant gen Hotel Roma. In der Regel wäre dieses Verhalten für mich das klare Ausschlusskriterium, da es aber laut Booking.com tatsächlich das einzige Hotel in Kalai-i-Khum ist, und ich keine Lust auf ein Homestay habe, gebe ich klein bei und fahre den Kindern hinterher zum Hotel Roma.
Mein Begrüßungskommittee
Am Hotel angekommen ist an sich ist hier eine gute Stimmung, aber alles ist sehr chaotisch. Mein Zimmer hat kein Strom und ist winzig, ebenso geht das Licht nicht. Klos und Dusche verströmen den Charme von sanitären Einrichtungen in einem Strafgefangenenlager. Trotzdem kann ich mich abends noch zu einer Dusche überwinden, schließlich war mein letzter Ganzkörper-Wasserkontakt im Hostel in Duschanbe… ürgs!
Ich gehe abends noch zum nahegelegenen Supermarkt, um ein paar kleinere Vorräte aufzustocken. Ich hätte auf keinen Fall so viel Essen aus Duschanbe mitschleppen müssen, ich ärgere mich bei dem Gedanken, dass ich 2 Kilogramm weniger den Berg hätte hochstrampeln müssen.
Vorspeise
Hauptgang
Das Abendessen wurde im gemeinsamen Kreis eingenommen und wider Erwarten habe ich es komplett aufessen können, was mich ein wenig beruhigt. Eindeutig geht’s mir besser, wenn auch nicht perfekt. Der Magen rumort nach all dem unerwarteten Essen, aber lieber das als die Kraftlosigkeit der letzten Tage.
Das Hotel ist voll mit Motorrad-Reisenden aus aller Welt, ich bin die einzige Person, die per Rad unterwegs ist. Heute hatte mich ein polnisches Pärchen auf dem Motorrad überholt, gestern zwei Franzosen auf zwei Motorrädern, sonst habe ich seit meiner Abfahrt in Duschanbe keine weiteren Tourist_innen mehr gesehen, erst recht keine mit dem Fahrrad. Auch wenn ich wusste, dass die Strecke wenig Befahren ist, so wenig Kontakt mit Tourist_innen hätte ich nicht erwartet.
Abends verärgere ich die Biker noch ein wenig, denn sie haben mein Rad eingebaut im hintersten Eck der Garage. Weil ich morgen wieder vor 6 Uhr früh aufbrechen will, müssen sie mir entweder jetzt helfen es zu bergen, oder es gehen morgen alle Alarmanlagen der Motorräder los. Glücklicherweise entscheiden sie sich dafür mir Abends noch zu helfen.
Ich gehe früh ins Bett, damit ich morgen einen frühen Start hinlegen kann. Ich habe mich im Laufe des Abends gegen eine Mitnahme per Mini-Bus oder Jeep nach Khorogh entschieden. Ich fühle mich ein wenig besser heute und will es einfach langsam angehen lassen. Sollte es nicht klappen, werde ich unterwegs schon eine Mitfahrgelegenheit finden. Das Gefühl mich heillos mit dieser Tour übernommen zu haben, das schwebt immer noch über mir und beeinflusst mein Denken und Handeln. Trotzdem versuche ich positiv an die Sache ran zu gehen, es wird schon irgendwie klappen.