29. Juli 2019:
Ich steh um 8 auf und geselle mich in den Frühstücksraum. Das Frühstück finde ich nun nicht so überragend wie alle anderen um mich rum, schlecht ist es aber keinesfalls. Ich sitze an einem Tisch mit Moritz und Flo, die beide alleine von Deutschland aus mit dem Rad unterwegs sind. Für sie bin ich natürlich nur der “Kurzzeitreisende”, der sich mal 3 Wochen Urlaub hier in der Gegend vorgenommen hat. Flo kommt sogar aus Berlin und ich kenne ein Fahrrad-Camp, das er dort organisiert, so kommen wir über das Radfahren in Berlin ins Gespräch.
Ich bin gerade dabei mich anschließend fertig zu machen um die Stadt zu erkunden, als Moritz mich fragt ob ich meinen Sawyer Wasserfilter verkaufen will, ein Brite sucht wohl noch dringend nach einem und müsste ihn ansonsten irgendwie in die Stadt liefern lassen, was sicherlich ein teures und zeitaufwendiges Verfahren wäre. Ich bin froh meinen Verkaufen zu können, von der Fließgeschwindigkeit beim Filtern war ich nicht wirklich überzeugt und zweitens wird so die Tasche für den Rückflug leichter. Zudem weiß ich nicht, wann ich wieder einen solchen Filter brauche, die bisherigen Wandertouren in Schweden konnten ja mit kristallklarem Wasser aufwarten.
Der Berliner Flo gibt mir dafür eine alte Bremse von sich mit, die er gerne nach Berlin transportiert haben möchte. So ist das gerade gewonnene Gepäckgewicht gleich wieder verloren. Schließlich hört er allerdings, dass ich noch einen komplett ungenutzten Fahrradmantel dabei habe. Da es hier in der Gegend nur billige Fahrrad-Ramschartikel aus China gibt, ist ein deutscher Reifen der Marke Schwalbe so etwas wie der Hauptgewinn. Er Verspricht mir also gleich den Neupreis dafür zu zahlen, sofern ich ihm diesen überlasse. Da der Reifen nicht genutzt wurde, ist das auch komplett fair, ich kann mir ja dann in Deutschland einen nachkaufen. Wird das Gepäck also doch leichter, ganze 700gr.
Theoretisch könnte ich hier mein ganzes Rad in Einzelteile zerlegen, ich würde diese sicherlich verkauft kriegen. Im Hostel sind dutzende Langzeitreisende untergebracht und nach über einem halben Jahr auf Tour gibt es so einige mechanische Auflösungserscheinungen an ihren Rädern. Nun, ich will in zwei Tagen vom Tegeler Flughafen nach Hause radeln, daher bleibt das Rad heil und in einem Stück, ich kann es den Ersatzteil-Geiern gerade so entreißen. 😉
Auch in den letzten Wochen wurde ich immer wieder von Einheimischen gefragt, was denn mein Rad kosten würde und ob ich es ihnen nach Beendigung meiner Tour verkaufen würde. Ich habe bei den Kosten immer gelogen und die Kosten auf 200-300$ beziffert. Es kam mir einfach falsch und schäbig vor, ihnen zu berichten dass mein Rad etwa ein tadschikisches Jahresgehalt kostet. Verkauft hätte ich es eh nicht, dafür liebe ich meinen Drahtesel viel zu sehr und will noch einige Touren damit unternehmen.
Zudem sehe ich der Früh noch mal die Motorradgang, die sich nun auf nach China macht:
Nach dem Ersatzteile-Bazar in der Früh mache ich mich nun auf in die Stadt. Erst laufe ich zurück zu Lenin, anschließend geht es in den angrenzenden Park. Dort sind Mahnmale zur Erinnerung an die Gefallenen der Roten Armee, neben den Kriegsopfern wird dort aber auch den Opfern von Tschernobyl gedacht. Was ich nicht wusste, bei den Aufräum- und Versiegelungsarbeiten am Reaktor in der Tschechoslowakei waren auch etwa 4500-5000 kirgisische Helfer beteiligt, die dort auch umgekommen sind, beziehungsweise an den Spätfolgen verstorben sind.



Ein weiteres Mahnmal gedenkt kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Usbekistan und Kirgistan im Jahre 2010. Bildhauerisch wurden zwei trauernde Frauen in usbekischer und kirgisischer traditioneller Kleidung dargestellt. Bei den Auseinandersetzungen starben je nach Quelle zwischen 174 und 2500 Menschen, 400.000 – 1.000.000 Menschen flüchteten, es gab Massenvergewaltigungen, Plünderungen und Brände.
Unglaubliche Zahlen für einen Konflikt, von dem ich noch nie gehört habe.
Infos: https://de.wikipedia.org/wiki/Unruhen_in_S%C3%BCdkirgisistan_2010

Weitere Mahnmale und Statuen:
Als Gegenprogramm steht nebenan der “Love-Park”, der wohl ein beliebtes Fotomotiv bei Hochzeitspärchen ist. Mir kommt in diesem kitschigen Setting eher die Galle hoch, für ein paar skurrile Fotos ist der Park aber geeignet.



Zum Mittagessen geht es zu “Brio”, einem westlichen Café in der Innenstadt. Dort treffe ich auch den Käufer meines Wasserfilters wieder, wir sitzen also zum Mittagessen zusammen. Für einen Cheeseburger mit Pommes und Getränk zahlt man keine 4€, der Aufenthalt in Osch am Ende wird wohl kein zu großes Loch in den Geldbeutel reißen.



Es ist wieder unglaublich heiß, wie ein verschwitztes Monster schlurfe ich durch die Straßen. Keine Ahnung was sich die Einheimischen dabei denken, denn diese sind adrett gekleidet und scheinen durch die Hitze nicht im Geringsten gestört zu werden.
Nach dem Mittagessen gehe ich zum Fine Arts Museum, das ist klein aber fein. Wobei, “nett & skurill” trifft es vielleicht besser: Das Gebäude ist heruntergekommen und die Bilder sind teilweise zerrissen und zerknickt in uralten Bilderrahmen, die fast von der Wand fallen. Da investiert das Louvre in Paris wahrscheinlich monatlich eine sechsstellige Summe, dass ihre Meisterwerke wohlig temperiert, bei genau der richtigen Luftfeuchtigkeit hinter Panzerglas verschwinden. In Osch wird wohl eher alle 6 Monate mal staub gesaugt oder feucht durchgewischt. Ich finde das regelrecht charmant. Die Aufnahmen, meistens aus der Sowjetzeit sind spannend. Zwar wird das ländliche, traditionelle Leben in Kirgistan portraitiert, weit mehr werden aber industrielle Entwicklung oder die Erziehung nach marxistisch-leninistischen Grundzügen bildlich festgehalten. Ein Raum, in dem ein paar Bilder noch hängen sieht aus wie ein gut erhaltener Originalschauplatz, an dem sich jeden Sonntag die KPdSU getroffen hat. Sehr skurril also. Da der Eintritt ins Museum mich aber 60 Cent gekostet hat, nehme ich an, das auch wirklich nur beschränkte finanzielle Mittel dem Fine Arts Museum zur Verfügung stehen.





Anschließend kapituliere ich vor der Hitze. Auch wenn ich mich bei der Radtour weitergequält habe, hier in der Stadt kocht mich der Asphalt von unten und es weht mir kein Fahrtwind mehr um die Nase. So entschließe ich mich für die Rückkehr ins Hostel. Dankenswerterweise gibt es hier überall kleine Spätis und Minimärkte, wo man für knapp 30 Cent einen Liter Wasser kaufen kann, wenigstens verdorre ich also nicht.


Erst als die Sonne wieder verschwindet fühl ich wieder ein Fünkchen Energie in mir, erst dann kann ich mich aufraffen das Hostel wieder zu verlassen.



Abends gehe ich erneut zum Borsok-Restaurant. Eine gute Linsensuppe und ein Hähnchen in Brokkoli-Sauce später taumele ich glücklich und satt zum Hostel zurück. Zahlreiche Gespräche auf der Veranda folgen. Ich freue mich sehr heute so viele nette Gesprächspartner gefunden zu haben im Hostel. Auch wenn ich keine so extreme Tour abliefere wie die meisten anderen Gäste, gibt es doch einen regen Austausch. Und ich freue mich auch unglaublich endlich wieder ausführlich mit Leuten in Deutsch und Englisch reden zu können, es war teilweise doch unbefriedigend mit den Einheimischen nur in Bruchstücken zu kommunizieren.
80 Som = 1€, ein Ribeye kostet also keine 4€
Verändert hat sich auch mein Schlafrhythmus, nach all den Gesprächen falle ich erst in Mitternacht ins Bett. Da hatte ich an manchen Abenden auf der Tour bereits 3 Stunden Schlaf intus, somit ist das Stadtleben doch wieder deutlich anders als die Einsamkeit im Zelt.